- Musik der Renaissance: Frankoflämische Schule, England und Italien
- Musik der Renaissance: Frankoflämische Schule, England und ItalienEs ist ein erstaunliches Phänomen, dass ein relativ kleines Gebiet wie der frankoflämische Raum vom frühen 15. bis ins späte 16. Jahrhundert hinein als Zentrum der Mehrstimmigkeit hervortrat und mit dem Prinzip der Vokalpolyphonie stilbildend auf ganz Europa einwirkte. Die politische und kulturelle Hochblüte des Herzogtums Burgund in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen hat dazu Wesentliches beigetragen. Höfisches, klerikales und bürgerliches Musikleben gelangten hier zu reichster Entfaltung. Hof- und Domkapellen vereinigten die fähigsten Musiker und betrieben eine intensive Ausbildung der musikalischen Elite vom Knabenalter an. Dennoch reichen benennbare Ursachen dieser Art nicht aus, die große Zahl erstrangiger frankoflämischer Komponisten bis zum Beginn des Barockzeitalters ganz zu erklären.Viele dieser Komponisten, die auch Kapellsänger waren, lebten längere Zeit in Italien, wo Päpste und Kardinäle, Fürsten und Stadtstaaten darin wetteiferten, mit leistungsfähigen Kapellen und berühmten Namen zu glänzen. Hunderte von Musikern der frankoflämischen Schule (früher etwas ungenau auch »niederländische Schule« genannt) lassen sich hier, beiderseits der heutigen französisch-belgischen Grenze für die Zeit von etwa 1430 bis 1560, nachweisen. Die Schule zeichnete sich aus durch große kulturelle Eigenständigkeit über staatliche und sprachliche Grenzen hinweg. Stilistisch kann man ihre Musiker etwa zu fünf Generationen zusammenfassen. Führend in der ersten Generation waren Guillaume Dufay und Gilles Binchois, die beide für den burgundischen Hof tätig waren. Die zweite Generation wird vor allem repräsentiert durch Johannes Ockeghem, der aus Flandern stammte, sprachlich also zu den wirklichen »Niederländern« zählte und sein Leben an verschiedenen französischen Höfen verbrachte. Sein Zeitgenosse Antoine Busnois stand in Diensten Karls des Kühnen und seiner Tochter Maria von Burgund.Die Jahrzehnte um 1500 bildeten mit der dritten Generation einen Höhepunkt der frankoflämischen Schule mit bedeutungsvollen Gattungs- und Stilveränderungen. Der herausragende Musiker dieser Zeit war Josquin Desprez. Neben ihm sind vor allem Jacob Obrecht, Pierre de La Rue, beide vorwiegend in Flandern tätig, und der Hofkomponist Kaiser Maximilians I., Heinrich Isaac, zu nennen.Als Vertreter einer vierten Generation wirkten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Nicolas Gombert als Leiter des Knabenchors der Hofkapelle Karls V., Jacobus Clemens non Papa in Ypern und Brügge, Adrian Willaert, der einflussreiche Begründer der »venezianischen Schule«, Clément Janequin, bekannt durch seine weltlichen französischen Chansons, Jacob Arcadelt und Cypriano de Rore als Meister des italienischen Madrigals.Am Ende der Epoche schließlich war Orlando di Lassooder Roland de Lassus, gebürtig aus Mons und tätig in München, die bestimmende, universale Musikerpersönlichkeit. Etwa in die gleiche Zeit fällt das Schaffen der Niederländer Philippe de Monte, Jacobus de Kerle vorzugsweise in Wien und Giaches de Werts in Oberitalien. Allerdings gewannen im 16. Jahrhundert auch Italiener an Bedeutung, und der Zeitstil wurde, außer durch Lasso, entscheidend geprägt von dem in Rom wirkenden Giovanni Pierluigi da Palestrina, der die Entwicklung der frankoflämischen Musik gültig zusammenfasste. Seine Kompositionsweise wurde in der Folgezeit als normgebendes Ideal angesehen, an dem alles Neue sich zu messen habe.Der vokalpolyphone Stil, der somit fast zwei Jahrhunderte europäischer Musik prägend bestimmt hat, verdankt seine Entstehung um 1425 einerseits der individuellen künstlerischen Leistung seines ersten Exponenten, Guillaume Dufay, ist aber andererseits nur zu verstehen als Verschmelzung der französischen Tradition, der Dufay entstammte, mit neuen Klang- und Formimpulsen, die in erster Linie von England, ergänzend dazu auch von der Musik des Trecento, des 14. Jahrhunderts, in Italien ausgingen.Einen Anstoß für die Kenntnis englischer Musik bildeten der »Hundertjährige Krieg« und die Präsenz englischer Adliger mit ihren Musikern in den von England eroberten Gebieten Frankreichs. Auch das Konzil von Konstanz (1414-18), das Hunderte von Sängern und Instrumentalisten, darunter die päpstliche Kapelle, in der Stadt zusammenführte, bot Gelegenheit für den englisch-kontinentalen Austausch. Charakteristische, von der Dufay-Generation aufgenommene Elemente der englischen Musik waren deren gesanglich strömende Linien, eine natuürlichere, einfachere rhythmische Gestaltung und eine überwiegend konsonante Klangbildung mit bevorzugter Anwendung der Intervalle Terz und Sexte innerhalb einer zur Dur-Tonalität tendierenden Harmonik.Quellen belegen, dass die neuartige Wirkung der englischen Musik dem 15. Jahrhundert selbst bewusst war. Der burgundische Hofdichter Martin Le Franc spricht in seinem »Champion des Dames« von einer »Contenance angloise« (einer englischen Haltung oder Auffasung) der jüngeren Komponisten, die sich in neuen, »frischen« Zusammenklängen äußere. Und der bedeutendste Musiktheoretiker der zweiten Jahrhunderthälfte, Johannes Tinctoris bezeichnet in seinem »Proportionale musices« die Musik seiner Zeit als eine »Ars nova«, eine »neue Kunst«, deren Quelle und Ursprung in England zu suchen sei.Neben dem dominierenden englischen Einfluss auf die neue Kompositionsweise der Dufay-Zeit spielt auch die Erinnerung an italienische Trecentokunst mit ihrer klaren Formbehandlung, ihrer gesanglichen Melodik und ihrer Freude am unmittelbaren Wohlklang im Wandlungsprozess nach 1400 eine gewisse Rolle. Italien, das später von den frankoflämischen Musikern so Wesentliches empfing, hat also in einer früheren Phase durch Elemente, die die italienische Musik des 14. Jahrhunderts von der gleichzeitigen französischen unterscheiden, selbst zu dieser Stilwandlung beigetragen. Als Vermittler italienischer Anregungen an Dufaygilt der in Lüttich geborene und ab 1401 inPadua ansässige Johannes Ciconia, dessen Kompositionen neben den genannten Merkmalen häufig eine harmonietragende Unterstimme im späteren Sinne mit vorherrschenden Quart- und Quintschritten und der Bevorzugung bestimmter, die Tonalität fixierender Töne (Grundton, Quinte, Oktave) aufweisen. Ein solcher »Harmonieträger« fungiert wenig später in den großen, neuartig vierstimmigen Kompositionen Dufays als ein für diese frühe Vokalpolyphonie charakteristisches Klangfundament.Prof. Dr. Peter SchnausBesseler, Heinrich: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Lizenzausgabe Laaber 1979.Bossuyt, Ignace: Die Kunst der Polyphonie. Die flämische Musik von Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso. Aus dem Flämischen. Zürich u. a. 1997.Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.
Universal-Lexikon. 2012.